Als ich Sahera das erste mal getroffen hab, war sie 10 Jahre alt, gerade frisch in die Schule gekommen und voller Begeisterung. Das Rohinga-Mädchen schien sich an das Leben im weltgrößten Flüchtlingslager gewöhnt zu haben. Nur manchmal hatte ich den Eindruck, dass die bösen Erinnerungen an den Genozid in ihrer Heimat Myanmar, an Flucht und Grausamkeiten in ihr aufploppten – und sie in eine Art erschminkte Traumwelt flüchtete. (https://yvonnekoch.wordpress.com/2018/07/24/make-up-against-reality/).
Zehn Monate später, im November 2018, hab ich sie dann wiedergesehen. Nur kurz, weil meine Interviews im Camp eng getaktet waren. Aber Sahera strahlte, als ich sie wiedererkannt hab. Sie war weniger schüchtern, schwärmte von ihrer Schule und verriet mir, dass sie immer noch Englisch-Lehrerin werden wolle.
Und dann, ein Jahr später, will ich Sahera wieder treffen. Diesmal hab ich viel Zeit für sie eingeplant, uns extra einen abgetrennten Raum im medizinischen Zentrum einer Hilfsorganisation in der Nähe ihrer Hütte gesichert und der Dolmetscher ist auch zur Stelle. Er gehe sie mal holen, sagt er und verschwindet. Es dauert erstaunlich lang. Immer wieder kommt jemand in den Raum, ich schaue hoch, erkläre, dass der Raum belegt ist und dann wieder… warten.
Deshalb bin ich erstmal etwas genervt, als der Vorhang sich wieder bewegt und eine verschleierte Frau vor mir steht. Ich setzte gerade zu meinem ‚hier ist besetzt-Spruch‘ an, da seh ich die Augen. Diese Augen kenn ich doch? Und dann taucht Habib hinter ihr auf, mein Dolmetscher. Und gibt Zeichen, dass auch er ziemlich verblüfft ist über diese Verwandlung: Die verschleierte Frau ist Sahera, das bildhübsche Rohinga-Mädchen!
Sie setzt sich. Schlägt die Augen schüchtern zu Boden. Und auf meine Frage, ob sie hier in diesem Raum den Schleier nicht ablegen will, antwortet sie nur ganz leise: „Das geht nicht solange ER im Raum ist…“ Sahera deutet zaghaft auf Habib. Der ist immer noch sichtbar verblüfft, steht aber sofort auf und meint, ich solle ihn rufen, wenn’s losgehen soll. Und erst als er draußen und der Vorhang sorgfältig drapiert ist, löst Sahera die kleinen türkisen Stecknadeln vom Schleier.
Witzig, denke ich, nur Frauen dürfen sie unverschleiert sehen, aber sie hat nichts dagegen, dass ich ein Foto mache. Und wenn das ein Mann sieht?
Aber noch mehr interessiert mich, warum sie jetzt verschleiert ist. Wieder kuckt Sahera auf den Boden. „Als wir uns das letzte Mal getroffen haben, da war ich ja noch ein Kind. Da bin ich noch in die Schule gegangen und in die Madrasa (das ist eine Koranschule). Jetzt bin ich größer geworden, ich bin kein Kind mehr. Und meine Mutter lässt mich jetzt nicht mehr auf die Schule, weil ich jetzt eine junge Frau bin. Meine Mutter will nicht, dass ich das Haus verlasse, das gehört sich nicht nach unseren Rollenvorstellungen.“
Zugegeben, ich hab nicht gleich verstanden, was jetzt wirklich der Grund für den Schleier war. Bis Habib, mein Übersetzer, deutlicher wurde: Sahera hatte ihre Tage bekommen. Und damit gilt sie als Frau!
Und hab ich das richtig verstanden? Sie geht nicht mehr zur Schule? Kaum hab ich diese Frage gestellt, werden ihre Augen zu Schlitzen. Es ist nicht ganz leicht, Gefühlsregungen anhand eines kleinen Gesichtsausschnitts zu erkennen, aber ich glaube, in Saheras Augen ist ganz kurz sowas wie Wut aufgeblitzt. Aber als sie antwortet klingt ihre Stimme immer noch leise, zurückgenommen: „Ich will schon immer noch Lehrerin werden. Aber ich hab jetzt keine Möglichkeit mehr fürs Lernen. Die Schule ist ja von einer NGO und das ist ein Stück weiter weg und meine Mutter meint eben, dass das nicht sicher für mich ist, zu gefährlich. Außerdem will sie auch nicht, dass ich Lehrerin werde. ICH schon, immer noch, ich würde so gerne mehr lernen. Für mich war die Schulzeit einfach toll, ich bin ja hier im Lager mit 10 Jahren zum allerersten mal in den Unterricht. In einer NGO-Schule und in einer Madrasa. Und wir konnten draußen auch spielen. Aber jetzt darf ich halt gar nichts mehr, weder zur Schule noch zur Madrasa, ich darf ja nicht mal mehr raus. Und den ganzen Tag in der Hütte…das macht mich verrückt. Ich bin 13 und seit fast einem Jahr ist das jetzt so.“
Ihr Mutter arbeite mittlerweile bei einer Hilfsorganisation, sagt sie. Und das heißt, dass Sahera den Haushalt macht, auf den kleinen Bruder und das Baby ihrer Schwester aufpassen muss. Kochen, putzen, Geschirr spülen, Wäsche waschen, das sei ihrAlltag.
Sie will mir ihr neues Zuhause zeigen. Denn die alte Hütte ist ersetzt worden, sie wohne jetzt auch eine Gasse weiter weg. Also folge ich ihr. Und bin erstaunt, wie ein so junges Mädchen mit all den Kleiderschichten auf den unebenen, schmalen Gassen so elegant laufen kann. Wir brauchen keine fünf Minuten, dann öffnet sie eine Tür und lässt mich ein. Und ich bin erstmal sprachlos! Das hab ich nicht erwartet….
Die komplette Decke der Hütte ist mit Papierblumen und Girlanden bedeckt, alles ist bunt und bewegt sich leicht durch den Luftzug. UNGLAUBLICH! Das also macht Sahera, wenn sie Zuhause bleiben muss. Sahera nimmt den Gesichtsschleier ab und grinst schief. Meine Begeisterung für ihre Bastelarbeiten freut sie zwar, aber, sagt sie, sie sind auch ein Zeichen für all die Zeit, die sie hier verbringen muss. „Ich gehorche meiner Mutter. Ich muss ihr gehorchen und auf ihren Rat hören. Wenn sie was will, dann tue ich das einfach, ich hinterfrage das gar nicht, das wär nicht okay.“ Sie schüttelt den Kopf ganz leicht, dann drückt sie die Schultern nach hinten und den Kopf hoch. Naja, ganz so schlimm sei es dann auch wieder nicht. „Es gibt schon fünf, sechs Freundinnen, die quasi meine Nachbarn sind und die besuchen mich Zuhause. Wir haben zwar keine Spiele, aber wir quatschen dann halt miteinander. Es geht uns zwar gut hier, aber meistens reden wir doch über die Zeit, wenn wir nach Myanmar zurück können, wie das dann wohl sein wird. Als wir uns das letzte Mal getroffen haben war das noch nicht so, da war es ja in Myanmar noch total schrecklich. Aber jetzt ist es besser und wir hoffen halt, dass wir bald dorthin zurück und wieder unser normales Leben leben können.“
Ich bin erstaunt. Glaubt sie wirklich, dass sie bald wieder zurück kann? Und wer hat ihr das erzählt? Ich frage jetzt ganz vorsichtig, will ihr nicht ihre Träume nehmen…Ob sie denn glaube, dass in Myanmar alles genau so sein wird wie vorher, dass sie wieder in ihr großes Haus könne, von dem sie mir erzählt hat? „Ja, ja, ich hab schon auch davon gehört, dass sie dort alles niedergebrannt haben. Aber wenn wir zurück gehen, hoffe ich, dass ich unser Grundstück wieder finde und dort dann ein neues Haus bauen kann. Also erstmal werden wir auch nur eine Hütte dort aufbauen. Aber wir haben ja hier mittlerweile auch Geld, meine Mutter arbeitet ja jetzt, und in Myanmar werden wir dann wieder Landwirtschaft haben, damit Geld verdienen und halt nach und nach alles wieder aufbauen.“
Okay. Das ist ihr Plan. Und was plant ihre Mutter? ——– Ich merke gleich, dass ich mit dieser Frage voll in den Fettnapf getreten bin… „Meine Mutter denkt, ich bin jetzt alt genug, ich kann auch schon an einen Bräutigam gegeben werden. Der Plan ist, das ich mit 14 verheiratet werde.“ Sie selbst wolle das nicht. Sie sei noch viel zu jung dafür. Aber es kämen jetzt schon Anfragen, Bewerbungen. Dabei wolle sie in ihrem Alter noch niemand heiraten. „Und ich hoffe, meine Mutter versteht mich da, im Moment hört sich noch auf mich, dass ich mich zu jung fühle und ich kann nur hoffen, dass das auch noch länger so bleibt. Ich will halt jetzt gerade nicht heiraten, aber irgendwann schon, vielleicht so mit 25 oder so.“
Sie kichert als ich wissen will, wie sie sich dann ihre Zukunft, ihr Eheleben vorstellt. „Ich weiß es nicht wirklich. Ich weiß nur, wenn ich mal ein Baby habe, dann werd ich mit ihm nirgends hingehen, wegen all des Drecks hier. Ich würde bestimmt ständig alles putzen. Ich würde gerne schöne Kleider tragen, am schönsten wär so ein Prinz- und Prinzessinnen-Leben… Nein, Spaß, ich wünsche mir, dass mein Ehemann ein Lehrer ist, er soll gut aussehen und genug Geld für uns beide verdienen. Ich hätte gerne einfach einen ganz normalen Mann, einfach aber lieb“
Nachtrag:
Ja, ich gebe zu, ich war geschockt als ich hörte, dass Sahera jetzt verschleiert ist, ‚eingesperrt‘ und womöglich bald verheiratet wird. Aber ich habe im Januar 2018 auch ihre Mutter kurz kennengelernt und hatte den Eindruck, dass sie ihre Tochter abgöttisch liebt. Warum also verbietet sie ihr, zur Schule zu gehen, draußen mit den anderen Kindern zu spielen und will sie schon mit 14 verheiraten?
Mittlerweile hab ich eine mögliche Erklärung gefunden: Saheras Mutter ist alleinerziehend, der Vater ist bei der Flucht aus Myanmar gestorben. Das heißt, sie muss ihre Kinder allein versorgen und beschützen. Und besonders für ein junges, hübsches Mädchen ist das Leben im Flüchtlingslager nicht gerade ungefährlich: Es gibt Vergewaltigungen, Entführungen und manche Mädchen werden zur Prostitution gezwungen. Vielleicht ist es also eine Art Schutzmaßnahme, ihre Tochter lieber nicht zu ‚zeigen‘. Und die frühe Verheiratung, dass hab ich auch schon in abgelegenen, ländlichen Gebieten in Bangladesch gehört, die ist manchmal nötig, damit die Mädchen einen Beschützer bekommen, nicht mehr als ‚Freiwild‘ gelten.
Ich sage nicht, dass ich das gut finde. Aber ich bin sicher, dass auch ich alles tun würde, um meine Tochter zu beschützen.